himmelschreiendes Verstummen in bombigen Zeiten
Funktion: Autor
Erstellungsdatum: 11/1999
Thomas Christoph Heyde
himmelschreiendes Verstummen in bombigen Zeiten
Erschienen in: Programmheft zur Uraufführung »Für S.«, Leipzig, 11/1999
1999: himmelschreiendes Verstummen in bombigen Zeiten „glaubten wir denn gar nichts mehr, seitdem – …“
Gerade unter den Kulturschaffenden kennt die Heuchelei des empörten Erschreckens kaum noch Grenzen, jetzt, wo Raketen, Kampfflugzeuge und menschliches Elend virtuell aufbereitet unsere Vorstellung bombardieren. Wohldistanzierte Entsetzlichkeit.
Angesichts einer kaum noch determinierbaren Vielfalt der Erscheinungen, scheint das permanente Insistieren auf Moralischem, auf Altruistischem bzw. – um Überwertungen von kulturellem Interventionismus nicht das Wort zu reden – das Verweisen, das Hinweisen auf genannt Moralisches nahezu lächerlich. Doch ist das Achselzucken der Resignierten oder die überraschte Betroffenheit der Distanzierten eine Antwort auf die – natürlich zu allem Zeiten – drängenden Fragen? Wohl kaum. Zumindest aber scheint sich hier das absehbare Drama von gesellschaftlicher Selbstfindung in postmodern-relativistisch fehlinterpretierten Zeiten zu manifestieren. Allzu leichtfertig wurde den wichtigen ästhetischen Debatten – die Nachdenkenswerterweise immer mehr im „alles ist wunderbar relativ“ münden, und die so großartig das Unbeteiligtsein legitimieren – das moralische, ethische und soziologische Handeln und Entscheiden von Personen und Personenkreisen geopfert. Jetzt also, wo die Realität auf jenen Interventionismus hin wieder überprüft wird, muss die plötzliche Engagiertheit, bzw. eben jenes himmelschreiende Verstummen umso mehr verwundern. Ist dies Dummheit, Blindheit oder modisches Kalkül, so muss hier naiv gefragt werden ? Natürlich findet sich in der großen Vielfalt immer ein Pendant zum „so oder so“, eher jedenfalls als zum „so“; aber dem Definierten einer Entscheidung die sich moralisch überprüft (und anders als definiert tritt keine Erscheinung zu Tage, wie relativ sie dann auch immer wirkt oder interpretiert wird), dem Definierten einer künstlerischen Entscheidung ist auch die Möglichkeit des Einmischens, des (Ein-) Wirkens immanent. Und außerdem und bekanntermaßen überschreitet Kunst ganz leicht die Grenzen die politisches Kalkül zieht. Dem Geruch des futuristischen oder nostalgischen Weltverbesserns, der dem Moralbegriff leider anhaftet – heute -, sollte gelegentlich wieder die sachliche(?) Penetranz des Einforderns entgegengesetzt werden.
Natürlich – der Hoffende ist schließlich nicht der Blinde -, es ist reichlich unpopulär auf dem Schlachtfeld der reinen Begrifflichkeit und Individualästhetik derartiges einzufordern – nicht nur heute. Die Interessierten aber, die Sensibilisierten, die Begabten, die Verantwortlichen sollten ruhig auch dann mit Permanenz den Finger erheben, wenn die Realität keine unmittelbare Notwendigkeit des Eingreifens erkennen lässt. Doch was heißt hier unmittelbar? Wäre dies nicht wieder eine relativistische Ausrede?
Nun ja, „Krieg, et cetera“ ist Alltag der Anderen – klar, und Mord (auch amtlicher übrigens), Folter, Vergewaltigung, Vertreibung sind glücklicherweise eben meist nicht unsere Alltäglichkeiten. Lächerlich also eigentlich die Aufregung: „Wir sind die Guten“. Immer. Oder? Wer aber redet in einer Gesellschaft der demokratisch vereinigt-unterdrückten Ängste schon gerne von trügerischer Ruhe und leblosem Toleranzgemurmel, von Eingreifen und Beteiligtsein?!
„vielleicht noch“ Du ?
(Die in Anführungszeichen kursiv gesetzten Textstellen beziehen sich auf das in diesem Werk vertonte „Dezember-Gedicht“ von Jürgen Becker.)
Thomas Chr. Heyde
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Informationen zur Komposition »für S.«, auf die sich der vorliegende Text bezieht, sind hier zu finden.